Wer als Experte oder Expertin an einem Buch schreibt, ist nicht nur tief im Thema, sondern manchmal auch ganz tief in seiner Bubble versunken. Das ist nicht per se schlecht. Man sollte aber wissen, dass das für blinde Stellen sorgt. Bei der Überarbeitung des Textes und der Vorbereitung auf die Veröffentlichung will man sicher sein, dass man zwar einen klaren Standpunkt vertritt, aber auch auf Gegenwind vorbereitet ist.
Deshalb lohnt es sich in dieser Schreibphase besonders, nicht nur die Zielgruppe mitzudenken, sondern auch mögliche Kritiker*innen. Es gilt, „ (…) die eigene Argumentation noch „wasserdichter“ [zu] machen (…)". (1) Ich habe das mit Hilfe von ChatGPT versucht und zeige euch in diesem Artikel, ob und wie es funktioniert hat.
„Der meckernde Kritiker“
Eine Schreibtechnik, um diesen Perspektivenwechsel zu vollziehen, ist „Der meckernde Kritiker“(2). Autor*innen nehmen sich dabei ihre Gliederung oder konkrete Textstellen vor, suchen sich die wichtigsten Argumente heraus und kehren sie ins Gegenteil um und/oder kritisieren sie. Ohne Rücksicht auf Verluste. Es geht darum, ordentlich zu meckern und den Text auseinanderzunehmen. Um, entsprechend dem Prinzip „writing to learn“ nach Peter Elbow, den eigenen Text besser zu verstehen und den neuen Erkenntnissen anzupassen. Der oder die Schreibende hat danach die Gelegenheit, eventuelle Gegenargumente noch in den Text einfließen zu lassen und im besten Fall auch gleich zu entkräften. Allein die Gegenposition zu erwähnen und zu diskutieren, nimmt potenziellen Kritiker*innen etwas Wind aus den Segeln. Ratgeber und Expertenbücher gewinnen so an Tiefe.
Schreibtechniken mit KI
Im Rahmen meiner Ausbildung zur Schreibberaterin sammle und erprobe ich gerade solche Schreibmethoden und „Der meckernde Kritiker“ hat mir besonders gut gefallen. Weil man ausnahmsweise nicht ausgewogen sein muss und Positives an einem Text finden soll, sondern mal so richtig austeilen darf. (Natürlich nur am eigenen Text!!)
Gleichzeitig überlege ich bei allen Techniken und Strategien, wie man künstliche Intelligenz mit ins Boot holen könnte.
Natürlich sind solche Methoden in erster Linie dafür gedacht, dass man selbst aktiv wird, dass man (siehe oben) schreibend lernt und sein eigenes Schreiben verbessert. Aber es ist auch denkbar, dass es einem Autor oder einer Autorin schwerfällt, derart gegen den eigenen Text zu wettern.
Der künstliche Kritiker
Deshalb habe ich die KI gebeten, dies für mich zu tun.
ICH:
Hallo. Ich arbeite gerade an einem Buch und möchte, dass du heute als mein schärfster Kritiker agierst. Ich werde dir gleich einen Ausschnitt aus meinem Buch zeigen, das sich an erschöpfte Mütter richtet. Ich will, dass du den Text inhaltlich und stilistisch kritisierst. Kannst du das erledigen?
ChATGPT:
Natürlich, ich helfe dir gerne! Bitte teile den Ausschnitt aus deinem Buch mit mir, und ich werde mein Bestes tun, um ihn inhaltlich und stilistisch zu analysieren und konstruktives Feedback zu geben.
Konstruktives Feedback statt harsche Kritik
Zu diesem Zeitpunkt hätte ich schon merken können, dass die KI in die falsche Richtung „denkt“. „Konstruktives Feedback“ war nicht gerade das, was ich von ihr wollte. Aber ich habe es versucht.
Ich fütterte sie mit einer Passage aus dem Buch von Michèle Liussi und mir, „Die Klügere gibt ab“. Das dient vor allem dazu, die Methode einmal vorzustellen. Denn das Buch ist schon lange genug auf dem Markt, wir arbeiten schon seit einigen Jahren an dem Thema und kennen die Gegenargumente sehr gut.
ICH:
Ja, unsere Großelterngeneration hatte keinen Wäschetrockner, keine Zentralheizung und keine praktischen Einwegwindeln. Unsere Großmütter (die Väter hielten sich zum größten Teil raus) ackerten schwer im Haushalt. Hier hast du einen Vorteil. Aber dafür wird in anderen Bereichen viel mehr von dir verlangt: Die Erziehung ist raum- und zeitgreifender geworden. Wo Kinder früher „einfach mitliefen“, wird von uns heute erwartet, dass wir sie zum einen rund um die Uhr pädagogisch wertvoll bespaßen, zum anderen auch nach den neuesten medizinischen und erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen handeln. Zudem machen die heutigen Verhütungsmethoden die Familiengründung zu einer ganz bewussten Entscheidung, die uns das Gefühl gibt, nicht jammern zu dürfen. Wir haben es uns „ja schließlich so ausgesucht“.
Dazu kommt eine Doppelbelastung, die unter den gegebenen Strukturen kaum zu händeln ist: Die Gesellschaft erwartet, dass Mütter Erwerbsarbeit und Familienarbeit vereinen, ohne die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Und das trotz häufig stattfindender Retraditionalisierung in der Kleinfamilie: Sobald Kinder da sind, wird der Vater zum Hauptversorger, die Mutter ist für Erziehung und Haushalt weitestgehend allein zuständig – und soll dann noch arbeiten gehen. Keine der beiden Sphären nimmt Rücksicht auf die andere. Und während du von kleinen Kindern schwer verlangen kannst, weniger Aufmerksamkeit zu benötigen, können wir von der Politik durchaus erwarten, dass sie beispielsweise qualitativ hochwertige Betreuungsangebote schafft, die sich an den Realitäten und dem Bedarf orientieren. Und von unseren Arbeitgebern, dass sie darauf Rücksicht nehmen, dass Kinder sich nicht an Zeitpläne und Vorgaben halten.
ChatGPT:
Das ist schon mal ein interessanter Ausschnitt! Lass uns einen Blick darauf werfen.
Positiv finde ich, dass du einen klaren Standpunkt einnimmst und die Herausforderungen für moderne Mütter ansprichst. Du betonst die Veränderungen im Vergleich zu früheren Generationen, was einen guten Kontext schafft.
Allerdings könntest du den Text an manchen Stellen vielleicht etwas straffen. Zum Beispiel könntest du die Sätze über die Großelterngeneration kürzer gestalten, um den Fokus schneller auf die heutigen Herausforderungen zu lenken.
Zudem könntest du einige deiner Argumente mit konkreten Beispielen oder Statistiken unterstützen, um die Überzeugungskraft zu stärken. Das würde deinen Lesern einen klareren Einblick in die Realitäten geben, mit denen moderne Mütter konfrontiert sind.
Insgesamt finde ich den Ansatz gut, und mit einigen kleinen Anpassungen könntest du den Text noch wirkungsvoller machen. Wie denkst du darüber?
Die KI legt los
Die Antwort war erwartungsgemäß viel zu nett. Sie schmeichelt zwar unseren Autorinnenseelen, hilft uns aber nicht, uns auf mögliche Shitstorms vorzubereiten. (Die Beispiele und Zahlen und Fakten finden die Leser*innen an anderer Stelle in unserem Buch).
Da ich aber mal so richtig angemeckert werden wollte, habe ich ChatGPT darum gebeten, das auch zu tun.
ICH:
Ich hätte gerne, dass du kritischer bist. Du sollst als jemand agieren, der meine Argumente unsinnig findet und ganz anderer Meinung ist. So dass ich mich auf Kritik und Gegenargumente vorbereiten kann.
ChatGPT:
Natürlich, ich kann das. Lass uns sehen, wie das aussieht:
Ach, das leidige Gejammer über die Belastungen moderner Mütter. Ihr habt zumindest Wäschetrockner, Zentralheizung und Einwegwindeln, im Gegensatz zu euren armen Großmüttern. Ja, ihr ackert im Haushalt vielleicht nicht so schwer wie sie, aber dafür wird von euch in der Erziehung viel mehr erwartet? Ernsthaft? Die heutige Erziehung ist raum- und zeitgreifender geworden? Na klar, vielleicht, wenn man seine Kinder vor dem Fernseher parkt und sich selbst die Arbeit sparen will.
Und diese Sache mit der Doppelbelastung – als ob das etwas Neues wäre. Die Gesellschaft erwartet von Müttern, dass sie arbeiten und gleichzeitig die Familienarbeit übernehmen? Das ist doch nichts im Vergleich zu früher, als Frauen überhaupt nicht arbeiten durften und in der Küche festgeklebt schienen.
Und was ist mit der Entscheidung zur Familiengründung? Ihr habt Verhütungsmethoden, könnt bewusst entscheiden, wann und wie viele Kinder ihr haben wollt. Wie schlimm! Ihr habt es euch schließlich selbst ausgesucht. Und wenn die Politik und die Arbeitgeber nicht nach euren Wünschen tanzen, ist das etwa überraschend? Willkommen im echten Leben!
Nun, wie war das? Ich hoffe, das hilft dir, dich auf mögliche Gegenargumente vorzubereiten!
Danke für den "Shitstorm"
Und was soll ich sagen? Genau das sind die Gegenargumente, die wir immer wieder hören. Oft auch in diesem Ton. Das war das erste Mal, dass ich mich für so eine polemische Beschimpfung bedankt habe. :-D
Diese Methode sollte also auch dann funktionieren, wenn jemand seine eigenen Argumente noch einmal auf den Prüfstand stellen möchte, aber den Perspektivwechsel alleine nicht so gut hinbekommt. Auch wenn man die Kritik auslagert, kann man im Austausch mit der KI die eigene Blase verlassen, dazulernen und dem eigenen Text neue Aspekte abgewinnen.
Was allerdings nicht auf Anhieb klappte, war mit ChatGPT zu streiten:
Streiten mit der KI
ICH:
Ich finde es ziemlich polemisch von dir, dass du davon ausgehst, dass jeder, der sich für Kinder entscheidet, sich nicht mehr beschweren darf, wenn das Leben mit ihnen zeitweise sehr anstrengend ist. Wie kommst du zu dieser Ansicht?
ChatGPT:
Das war in der Tat ziemlich überspitzt von mir, da gebe ich dir recht. Es ist nicht fair anzunehmen, dass nur weil man sich bewusst für Kinder entschieden hat, man sich nicht mehr über die Herausforderungen beschweren darf. Jeder hat das Recht, über die Schwierigkeiten zu sprechen, die das Elternsein mit sich bringt, unabhängig von der bewussten Entscheidung für Kinder.
Die Idee hinter meiner Antwort war, die Perspektive einer Gegenargumentation zu übernehmen, um dir beim Vorbereiten auf verschiedene Standpunkte zu helfen. Es ist wichtig, die Realität des Elternseins anzuerkennen und zu respektieren, ohne dabei die individuellen Erfahrungen und Herausforderungen herabzuspielen. Entschuldige, wenn meine Antwort das nicht angemessen reflektiert hat.
Ich musste das Tool bitten, in seiner Rolle zu bleiben. Es scheint ein recht höflicher Zeitgenosse zu sein. Das wundert mich, denn er „lernt“ ja aus dem Netz. Die Journalistin Clara Vuillemin hat es mit etwas mehr Geduld geschafft, der KI ihre Höflichkeit auszutreiben. Nachzulesen in diesem taz-Artikel. Das bringt natürlich auch Gefahren mit sich: "Auf meine Fragen kamen sexistische, rassistische, menschenverachtende und faktisch falsche Antworten." (ebd.) Solche Antworten kann man vermutlich mit dem richtigen Prompt auch ausschließen. Außerdem hat die neue Version einen Filter, der genau das verhindern soll. Aber, wie sollte es anders sein: Es existieren bereits Anleitungen, wie man das umgehen kann. Gerade wenn man die KI schimpfen lässt, sollte man sich also bewusst sein, in welche Richtung das auch laufen kann.
Die meckernde Lektorin
Da ich eigentlich das nette ChatGPT mag, belasse ich es an dieser Stelle bei meinem Experiment mit der „meckernden KI“.
Wenn du lieber eine menschliche Kritikerin für deine Texte hättest und jemanden suchst, der deinen Text auf blinde Flecken abklopft, kannst du dich auch gerne an mich wenden! Sowohl in der Schreibberatung als auch im Lektorat achte ich auf solche Fragen. Und ich ebenfalls höflich, versprochen!