Bücher können die größten Klassiker der Welt sein und trotzdem euren persönlichen Geschmack nicht treffen.
Teresa Reichl: Muss ich das gelesen haben?, S.4
Schreibt Teresa Reichl in ihrem Buch „Muss ich das gelesen haben? Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht – und wie wir das jetzt ändern“, dass sich vor allem an Schüler*innen richtet, die seit Jahrzehnten mit den immergleichen Schullektüren zu kämpfen haben. Und an Lehrer*innen, die es in der Hand hätten, daran was zu ändern. Und an Germanistikstudent*innen, deren Literaturliste auch alles andere als divers ist. Und an Entscheider*innen, die Lehrpläne machen. Und … nun ja, ihr seht, worauf ich hinaus will: Jede*r, der oder die gerne liest, sollte in dieses Buch mal reinschauen und das eigene Bücherregal kritisch in Augenschein nehmen.
Der ewige Kanon
Geschichte wird von Gewinner*innen geschrieben, genauso wie der Kanon.
Teresa Reichl: Muss ich das gelesen haben?, S.42
Denn das dieser Kanon von weißen Cis-Männern zu dem erhoben wurde, was er heute ist, daran zweifeln nur noch die wenigsten. Das lässt sich nicht rückgängig machen, aber wir alle können ab sofort dafür sorgen, dass auch andere Autor*innen, andere Lebenswelten, andere Themen gelesen und besprochen werden.
Was muss man den nun gelesen haben?
Teresa Reichl, die die Klassiker schon auf diversen Online-Kanälen mit Witz bespricht und zerlegt, zeigt nicht nur die Schwachstellen des Kanons auf, sondern macht auch Vorschläge, was wir stattdessen lesen könnten. Bücher von weiblich gelesenen Personen, von jüdischen Autor*innen, Literatur von kranken und behinderten Menschen, queere Bücher und Bücher von Bi_PoC Autor*innen, Bücher von Arbeiter*innen und Bücher aus dem islamischen Kulturkreis. Es gibt so viel Literatur, die Schulen und Universitäten und auch wir Leser*innen ausklammern und die gesehen und gelesen werden muss! Wer Inspiration sucht, findet sie in Reichls Buch.
Lust auf Bücher
Kompliziert daherreden können und mögen die Leute im deutschen Sprachraum wirklich besonders gern.
Teresa Reichl: Muss ich das gelesen haben?, S.36
Dass Lesen nicht gerade zu den angesagtesten Beschäftigungen gehört. Welche Vorteile Lesen mit sich bringt, erläutert die Autorin dann auch noch wie im Vorbeigehen – und vor allem in einer Sprache, die bei der (eigentlichen) Zielgruppe vermutlich ins Schwarze trifft.
Die Germanistin schreibt absichtlich nicht wissenschaftlich, um den Text zugänglicher zu machen. Das ist manchmal etwas ungewohnt (aber ich bin ja auch alt), aber sehr erfrischend. Vor allem die Fußnoten haben mich köstlich amüsiert.
Faust, der Arsch
Mein besonderes Highlight war, das Faust ein so häufig zitiertes Beispiel im Buch ist. Weil ich für mein mündliches Examen wirklich alle Faust-Ausgaben gelesen habe, inklusive Dr. Faustus und den Urfaust, ja sogar den zweiten Teil, den – da hat Reichl recht – Goethe vermutlich auf Drogen geschrieben hat und den nun wirklich niemand lesen will. Und dennoch wird klar, warum gerade dieser Stoff so ein Klassiker ist und was wir für uns daraus heute noch mitnehmen können. Es geht also nicht darum, Faust zu verteufeln – sondern ihm andere Werke zur Seite zu stellen, um unseren Horizont zu öffnen und zu erweitern.
Zum Beispiel, wenn Faust sagen würde: „Hallo ich bin Faust und ich bin ein Arsch.“ Das sagt er halt aber nicht, sondern er lässt Gretchen schwanger, minderjährig und ohne Mutter oder sonst wen sitzen und fährt auf eine Orgie, die nein scheiß Monate dauert.
Teresa Reichl: Muss ich das gelesen haben?, S.28
Teresa Reichl:
Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht – und wie wir das jetzt ändern
Haymon, 2023
232 S., 17,90 € [D]
ISBN: 978-3709981764
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